Kurzgeschichten

Ich schreibe gelegentlich auch Kurzgeschichten. Drei davon wurden auf Polnisch veröffentlicht, die englische und französische Übersetzung von „Zigarettenmädchen“ kann auf Wunsch zur Verfügung gestellt werden.

  • Zigarettenmädchen
  • Der Sparkasten
  • Martinstraße 45.64.95.97

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Diese Kurzgeschichte wurde 2007 mit dem Moerser Literaturpreis ausgezeichnet.

Zigarettenmädchen

Der Himmel war blau, sehr blau, er wölbte sich wie ein makelloses Transparentpapier hoch über die Bäume. Keine Wolke war zu sehen, nur die kleine Atemwolke vor ihrem Gesicht, die immer dann aufstieg, wenn Rivka ausatmete. Denn es war kalt. Der Boden unter ihren Füßen war hart gefroren, die schwarze Erde mit einem Schleier aus Eis überzogen. Sie hörte keinen Vogel, obwohl sie inmitten eines kleinen Wäldchens stand. Vielleicht waren die Vögel festgefroren und hingen kopfüber tot von den Ästen. Ein komisches Bild. Rivka schaute unwillkürlich hoch, obwohl sie wusste, dass kein Vogel dort über ihr hängen würde. So war sie schon als Kind gewesen. Sie stellte sich die eigenartigsten Dinge vor, hatte seltsame Bilder im Kopf und malte sie mit Worten für die anderen, die meist lachten, manchmal aber auch befremdlich guckten.

Als Kind hatte sie bei der Arbeit immer komische Geschichten erzählt. Sie waren zu siebt gewesen, Vater, Mutter und fünf Kinder, die alle beim Drehen halfen. Tagsüber saßen sie in der engen Stube und stellten Zigaretten her. Abends zog der Vater mit seinem Bauchladen los und verkaufte sie bis spät in die Nacht in den Cafés. Die Mutter hätte gern geholfen, aber er sagte, nein, das geht nicht, du musst bei den Kindern bleiben. Zum Glück, denn Rivka wäre nicht gern allein mit den Geschwistern geblieben, wenn es dunkel war.

Die Arbeit erforderte viel Geschick. Kinderfinger eigneten sich gut dafür, das hatte der Vater oft gesagt. Zuerst mussten sie aus Papier die Hülsen kleben, während die Mutter den Tabak mischte. Dann wurden die Hülsen vorsichtig gestopft, das zarte Papier durfte nicht zerreißen. So manches Mal hatte Rivka ein kaputtes Papierchen in der Schürzentasche verschwinden lassen, damit die Eltern es nicht merkten. Nicht dass sie geschimpft oder sie gar geschlagen hätten, aber sie wollte ihre Eltern nicht enttäuschen. Zwei Reichsmark für tausend Zigaretten, die mussten erst verdient werden, denn es galt, sieben Mägen zu füllen. Wenn alle fleißig drehten, schafften sie bisweilen dreitausend Zigaretten am Tag.

Während Rivkas Finger die lange eingeübten Bewegungen vollführten, bei denen sie kaum noch hinschauen musste, waren ihre Gedanken frei und konnten überallhin wandern. Am liebsten stellte sie sich die Zukunft ihrer Zigaretten vor.

Wie eine einzelne Zigarette fertig gedreht in den Bauchladen wanderte, den sich ihr Vater am Abend umhängte. Wie er sie durch das dichte Treiben der Grenadierstraße trug, weg aus der dunklen Spandauer Vorstadt und hin zu den Lichtern der Friedrichstraße, in der er seine Ware anbot. Hier drängten sich Tanzcafés und Bierhallen, Varietés und Ballhäuser.

Ihre Zigarette lag nun im Bauchladen und schaute empor zu den bunten Lichtern, den Reklametafeln und Straßenlaternen; sie hörte das Klingeln der Elektrischen und die Musik, die aus geöffneten Türen drang. Das Gelächter der Betrunkenen, die lockenden Rufe der Huren, mittendrin die bittenden Stimmen der Bettler, die mit leeren Ärmeln oder Hosenbeinen auf dem Gehweg hockten.

Dann trat ihr Vater in das erste Café. Spiegel an den Wänden; eine Musikkapelle spielte zum Tanz, Damen und Herren in schöner Kleidung drehten sich auf dem Parkett. Rivka war nie dort gewesen, lauschte aber den Erzählungen der Erwachsenen und stellte sich vor, was ihr Vater abends erlebte.

Die meisten Gäste beachteten den gebeugten Mann im langen Mantel gar nicht; einige lachten über seinen dichten Bart, der in diesen Zeiten ganz und gar unmodern schien. Hier herrschten glatt rasierte Männergesichter vor, dann und wann sah man auch einen hoch gezwirbelten Schnurrbart, wie ihn der Kaiser trug. Manche hielten drei Finger hoch, wenn sie drei Zigaretten kaufen wollten, andere ließen sich ihr Silberetui füllen. Das war dann mal ein guter Handel für den Vater.

Damen rauchten damals kaum, schon gar nicht in der Öffentlichkeit, und sie warfen höchstens einen Seitenblick auf den kleinen Mann mit seinem Bauchladen, bevor sie wieder zum Sektglas griffen und ihrem Begleiter zuprosteten.

In irgendeinem der behaarten oder glatt rasierten Münder endete auch Rivkas Zigarette, hauchte in wenigen brennenden Minuten ihr Leben aus. Wie dramatisch das klang, dachte sie und musste lächeln. Sie lächelte seltener als früher, aber wenn sie an ihre Zigarettenträume dachte, verzog sich unwillkürlich ihr Mund.
Und dann war es vorbei mit dem Drehen. Zuerst mussten alle Russen ausreisen, die in den letzten beiden Jahren nach Berlin gekommen waren. Neue durften gar nicht mehr ins Land. Es gab immer weniger Menschen, die Zigaretten machten, dann kamen die Maschinen, die alles schnell und billig und mit wenig Handarbeit erledigten. Ihr Vater hatte eine Anstellung bei Garbaty in Pankow gefunden, wo er sicheres Geld verdiente, dafür aber mit der Elektrischen hinfahren musste. Abends erzählte er immer, dass die Maschinenzigaretten schlechter seien als ihre, dass der Tabak herausbröselte. Da steckt keine Liebe drin, pflegte er zu sagen, was sicher übertrieben war. Wie sollte einer täglich Hunderte von Zigaretten drehen und sie auch noch lieben? Doch Rivka vermisste es, mit der Familie um den Tisch zu sitzen und mit den Händen zu arbeiten, während sie ihre Gedanken wandern ließ.

Nun musste sie draußen auf dem Hof unter der Linde sitzen und sich verrückte Dinge ausdenken. Wolken, die Bocksprünge vollführten; tanzende Droschkenpferde, die sich im Takt einer Musikkapelle auf dem Pflaster wiegten; Lumpenhändler, die mit Opernsängerstimme Arien schmetterten, statt ihren immer gleichen Ruf über die Straße klingen zu lassen; einen ehrwürdigen Rabbiner, der mit Seifenblasen jonglierte.
Sie erinnerte sich an Joel Rosenzweig aus dem Nachbarhaus, der immer über die Mauer geschaut hatte, wenn sie unter der Linde saß. Manchmal hatte er sie mit Kirschkernen bespuckt. Ihre Mutter lachte nur und meinte, er wolle ihr zeigen, dass er sie gern habe, aber das konnte Rivka nicht so recht glauben. Für sie musste ein Mann träumen können, sie mit Geschichten bezaubern, zumindest aber aufmerksam zuhören, statt mit Kernen zu spucken.

»Das gewöhnst du dir noch ab«, sagte die Mutter. »Wenn man ein Leben lang zusammen bleiben will wie dein Vater und ich, gehört mehr dazu, als mit Worten schöne Bilder zu malen. Von Geschichten wird eine Ehe nicht satt.«

Rivka stand oft heimlich vor dem Spiegel, löste ihre Zöpfe und ließ die Haare offen über die Schultern fallen. Wie anders sie dann aussah, wie viel schöner, wie eine Frau, die aus Gedanken Träume spinnen konnte.
Sie tauchte aus der Wärme der Erinnerung auf. Seltsam, wie war sie nur auf all das gekommen? Ach ja, die Vögel, die kopfüber von den Bäumen hingen.

Als sie nun an ihren Vater und seinen Bauchladen dachte, musste sie sich von innen auf die Wange beißen, um nicht zu weinen. Der Gedanke rührte sie mehr als die Erinnerung an seinen Tod. Er hatte einen guten Tod gehabt, friedlich in seinem Bett.

Dann sah sie die Stiefel kommen, sie blieben ein Stück entfernt von ihr stehen. Eine gepflegte Hand mit einer brennenden Zigarette hing neben dem Bein herab, der Rauch kräuselte sich beharrlich nach oben. So schöne saubere Hände mit makellosen Nägeln hatte ihr Vater nie gehabt. Ehrliche Hände, so hatte er sie immer genannt.

Rivka lehnte den Kopf an die raue Rinde. Schloss die Augen. Sah noch einmal die Familie um den Tisch sitzen, die Geschwister, deren geschickte Finger klebten und stopften. Die Mutter mit der Schüssel, in der sie den Tabak mischte. Den Vater, der sich den langen Mantel anzog, den Hut mit der breiten Krempe aufsetzte und den Lederriemen seines winzigen Geschäfts um den Hals hängte.

Die Zigarette fiel kreiselnd zu Boden. Der rechte Stiefel trat sie aus, zermahlte sie auf der harten Erde.
Dann erklang ein scharfer Ruf. Die Kinder sprangen als Erste auf, liefen munter los, schienen das alles für ein Spiel zu halten; die alten Menschen erhoben sich schwerfälliger und setzten sich zögernd in Bewegung.

Rivka folgte der Gruppe als Letzte aus dem Wäldchen und drehte sich noch einmal flüchtig um. Nein, es gab keine Vögel, die kopfüber von den Bäumen hingen.

© Susanne Goga 2007

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Diese Kurzgeschichte erreichte 2006 Platz 2 beim Moerser Literaturpreis .

Der Sparkasten

Es war eine Dorfkneipe, wie man sie überall am Niederrhein fand. Ein paar Tische mit Holzbänken vor der Tür, auf denen niemand saß, weil alles im Nieselregen versank. Auch war es kalt, zu kalt für Anfang Juni, für die längsten Tage des Jahres.

Der alte Mann im grauen Mantel schaute an der weiß verputzten Hauswand hoch. Schankwirtschaft von Steph. Hommers stand auf dem Schild über der Tür, daneben hing regenschlaff noch ein verblühter Maibaum mit ausgewaschenen Bändern aus buntem Krepp. Im Eingang eine Tafel, die in kreidiger Schönschrift für den sonntäglichen Sauerbraten vom Pferd warb. Doch es war Montag, ein toter Tag für Wirte.

Der alte Mann trat ein, ging zur Theke und stellte die abgewetzte Reisetasche neben sich auf das blanke Linoleum. Er nahm den Schal ab, faltete ihn sorgfältig und legte ihn auf den Stuhl nebenan. Ein Mann hockte schweigend über seinem Bier. Drei andere standen am anderen Ende der Theke und gestikulierten lebhaft, Satzfetzen wehten herüber. »Muss doch rechzeitig auswechseln …«, »… der Hermann schläft im Stehen ein …. »die Flanke von rechts …«, »klares Abseits«. In einer Ecke spielten drei Jugendliche Tischfußball. Man hörte nur das Klacken des Balls und das Geräusch, wenn sie wie wild an den Stangen kurbelten.

Der Wirt polierte Gläser, als hinge sein Leben davon ab. Der alte Mann räusperte sich und beugte sich ein wenig vor.
»Ja?« Der Wirt blickte unwillig hoch.
»Ich hätte gerne einen Kaffee, bitte.« Seltsam, in dieser altvertrauten Umgebung klang ihm die Stimme selber fremd im Ohr.
»Der dauert aber.«
»Macht nichts. Ich habe Zeit.«

Der alte Mann nahm Tasche und Mantel und setzte sich an den kahlen Holztisch, der der Theke am nächsten stand. Nachdem er seinen Mantel ausgezogen und über einen Stuhl gehängt hatte, schaute er sich aufmerksam im Raum um. Wenig, fast nichts, hatte sich verändert. Dieselben Möbel, nur ein wenig zerkratzter, die Stuhlbeine schiefer, die Tischplatten stumpfer als früher. Die gleiche dumpfe Luft, das nikotingelbe Licht.
An den Wänden hingen Fußballplakate von der Bezirksmeisterschaft 1965 und die Ankündigung fürs Schützen- und Heimatfest im nächsten Monat. In einer Vitrine prangten Pokale von Hundezuchtverein, Handballgemeinschaft und Blumenfreunden. Ein Aufruf des Kirchenchors. Er suchte Nachwuchs, weil ihm die Sänger wegstarben.
Forschend wanderten die Augen des alten Mannes durch den Raum, zu den Fußballspielern, den Männern an der Theke.

Nach einer Weile kam der Wirt und stellte ihm Kaffee, Milch und Zucker auf den Tisch.
»Zu Besuch hier?«, fragte er ein wenig freundlicher als zuvor.
Der alte Mann überlegte und nickte dann. »Führen Sie diese Wirtschaft schon lange?«
»Seit sechzehn Jahren. Als mein Vater starb, hab ich den Laden übernommen«, sagte der Wirt. »Sind Sie von hier?«
Der alte Mann blickte an ihm vorbei. »Sie hatten früher einen Sparkasten. Einen grünen. Mit fünfzig Fächern.«
Der Wirt sah ihn überrascht an. »Sie sind also von hier.«
»Er hing dort drüben hinter der Theke. Wir zahlten jede Woche einen festen Betrag. Einmal im Jahr haben wir von den Zinsen einen Ausflug gemacht. Mit dem Bollerwagen sind wir in den Wald gefahren, mit unseren Frauen. Wir hatten Körbe dabei mit Schinken, Räucherfisch, Eiersalat. Das Bier haben wir zum Kühlen in den Bach gehängt.«
Der Wirt machte eine wegwerfende Geste. »Ich hab das alte Ding vor ein paar Jahren abgenommen. Niemand wollte noch einzahlen, da haben wir den Verein aufgelöst. Sie waren früher Mitglied?«
Der alte Mann trank von seinem schwarzen Kaffee und nickte bedächtig. »Einmal ist der rote Mätthes in den Bach gefallen. Wollte sein Bier rausholen und ist kopfüber hineingefallen. Er hat sich den Kopf an einem Stein angeschlagen. Danach war er den ganzen Tag so eigenartig. Gehirnerschütterung, nehme ich an.«
In der Stimme des alten Mannes schwang der Tonfall dieser Gegend mit, aber überlagert von etwas anderem, Fernem, das der Wirt nicht zu benennen wusste.
»Haben Sie Verwandte hier?«
Der alte Mann schüttelte den Kopf und warf ihm einen argwöhnischen Blick zu. »Nicht mehr.«
»Gut, ich muss dann wieder …« Der Satz hing im Raum wie ein Fragezeichen.
»Eins noch: Was ist aus dem Geld geworden?«
Der Wirt drehte sich im Gehen um. »Welchem Geld?«
Der alte Mann schob die leere Kaffeetasse an die Tischkante, so nahe, dass sie zu kippen drohte. Der Wirt griff schnell danach.

»Mit dem Geld aus dem Sparkasten«, sagte er beharrlich. »Haben Sie, was übrig war, an die Mitglieder ausbezahlt?«
Der Wirt schüttelte den Kopf, schien allmählich die Geduld zu verlieren. »Nein. Wir haben ein Fest davon gefeiert und alles vertrunken. War ein prima Abend. Mit der Tanzkapelle aus dem Nachbardorf.« Er wandte sich brüsk ab und kehrte hinter die Theke zurück.
Der alte Mann blieb einen Augenblick sitzen, als müsse er Kraft sammeln, stemmte sich von seinem Stuhl hoch und trat an den Tresen. Die drei Fußballfreunde hatten ihre Fachsimpelei beendet und schauten interessiert zu Wirt und Gast hinüber.
»Gibt es noch ein Kassenbuch?«
Der Wirt schlug das feuchte Geschirrtuch, das er um den Hals hängen hatte, mit einem Knall auf die Theke. »Guter Mann, es hatte alles seine Ordnung.« Er zitierte: »Die noch im Ort lebenden Mitglieder haben sich in dieser Gastwirtschaft versammelt und einstimmig beschlossen, den Sparverein aufzulösen und von dem verbleibenden Geld ein Fest zu begehen. So in etwa hieß es. Aber wenn Sie mir nicht glauben -«
Er bückte sich und wühlte eine Weile unter der Theke. Mit rotem Kopf tauchte er wieder auf und warf dem alten Mann ein grünes Kassenbuch hin. »Da steht alles drin, von 1913 bis zur Auflösung am -«, er warf einen Blick hinein, »am 14. Mai 1961. Bitte schön.«

Der alte Mann griff mit leise zitternder Hand nach dem Buch und schlug es auf der ersten Seite auf, die mit »Gründung eines Sparvereins am 23. Februar Anno 1913« überschrieben war. Darunter waren die Namen der Gründungsmitglieder in gestochener Handschrift aufgeführt. Er fuhr mit dem Finger langsam die Reihe entlang, bis er an einem Namen hängen blieb. Er ließ den Finger darauf liegen, als wäre er bleischwer, und schob dem Wirt das Buch hin. »Ich habe damals fünf Mark eingezahlt, von meinem Lehrgeld.«
»Na und?«, meinte der Wirt achselzuckend. »Das ist heute nichts mehr wert. Danach gab’s zweimal neues Geld.«
Der alte Mann sah sich um, als suchte er Unterstützung bei den anderen Gästen, doch die hatten sich gelangweilt abgewandt und redeten wieder über Fußball. Er ging langsam an seinen Tisch zurück, hängte sich den Mantel über den Arm und nahm die Tasche vom Boden auf. »Ich will Sie nicht länger stören.« Er schaute noch einmal in die Runde. Sein Blick blieb an dem hellen Rechteck hängen, der letzten Spur des Sparkastens. Dann fiel die Tür hinter ihm zu.
Kopfschüttelnd sah der Wirt ihm nach und warf einen Blick auf den Namen. Michael Cohn. Ausgeschieden nach Mehrheitsbeschuss der Mitglieder des Sparvereins. 24. November 1938.

© Susanne Goga, 2006

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Der folgende Text ist auch auf der Literaturkarte Rheinland des Literaturbüros NRW verfügbar, zusammen mit vielen anderen Texten und Informationen.

Martinstraße 45.64.95.97

Eine ganz gewöhnliche Straße, nicht lang, nicht kurz, alte Häuser, neue Häuser, ein bisschen Grün, ein bisschen sozialer Wohnungsbau, ein bisschen Gewerbe, ein Kindergarten. Und doch ist diese Straße mehr – ein Speicher des Vergangenen, ein familiärer, ganz persönlicher Erinnerungsort.

Nr. 45 ist die Freundin, die bei ihrer Oma lebte und darum Freiheiten genoss, Partys in der Küche feierte, die Jahrzehnte später unvergessen sind. Die Freundin ist weg aus meinem Leben, der Ort jedoch geblieben. In der Erinnerung eines Menschen wird das Alltägliche besonders.

Nr. 64, wo mein Vater wohnte, als er noch allein war, fremd im Rheinland nach dem Krieg und der Gefangenschaft, die sein Leben in vorher/nachher teilten. Ein rotes Backsteinhaus, das ich nie betreten habe. Ich weiß nicht einmal, wie lange er dort wohnte und bei wem. Antworten gibt es keine mehr.

Dann der Spielplatz, ein kleines Dreieck, Sand, Rutsche, Klettergerüst aus Metall, drumherum Knallerbsensträucher – nur knallen, nicht essen! -, dort parken heute Autos. Nur noch ein Bild im Kopf der Kinder, die dort spielten.

Nr. 95, roter Klinker, hier wohnte meine Oma. Tri Top Mandarine und Herrentorte vom Konditor, freitags baden, während Mama ihr den Hausflur putzte. Oma im Sessel, gleich neben der Tür, wie sie auf uns wartete, manchmal im Dunkeln, dann ging es ihr nicht gut.

Nr. 97, nie gestrichen, nie fassadenverschönert, im Graubraun der Gründerzeit, mit grüner Tür. Ferne Bilder, Oma wohnte nur bis 1970 dort. Toilette im Flur, dahinter die Tür zum Hof, hohe Mauern, Beete, Bäume und Tante Wolters, die eine Birne an einer Schnur zu mir herunterließ. Kindheit, kondensiert in einem Bild.

An Samstagen Rollschuh laufen auf der Straße – wenn der Wind günstig stand, wehte Fußballjubel vom Bökelberg herüber, ein lautes Raunen, viele Kehlen, ganz nah und unsichtbar zugleich.

Das Echo meiner Mutter, Zimmer unterm Dach, weitab der Eltern, bebende Kellermauern damals. Aber auch ihr Reich, wo sie für sich sein konnte, fernab der engen Wohnung, die sich die Eltern mit der Nachbarin teilten. Unterm Dach juchhe, wie sie es nannte.

Was wird aus dem Geschehenen? Zeugt ein Ort von dem, was dort geschah? Ist die Erinnerung nur in mir oder auch da draußen in der Welt, auf jener Straße, in jenen Mauern, dem Asphalt, dem Fenster, aus dem die Birne damals schwebte? Lebt mein Vater noch in jenem roten Haus, hat etwas von ihm darin überdauert? Atmet meine Mutter noch in Nr. 97, sitzt ein Hauch von Oma dort in Nr. 95, den Blick zum Fenster?